Norris von Schirach »Beutezeit«

Im Frühjahr 2018 waren sich Leser*innen und Presse einig, dass der Autor von »Blasse Helden« ein deutscher Insider sein muss, der Trauma und Exzess der neunziger Jahre in Moskau hautnah miterlebt hat. Als hätte er sein Ohr an der Wand gehabt, erzählt Arthur Isarin, wie Putin zur Sehnsuchtsfigur vieler Russen werden konnte. Sein Romanheld Anton ist ein zynischer Opportunist ohne Moral. Auf der Buchpremiere in den Geistesblüten lüftete die Kulturredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Julia Encke Isarins wahre Identität. Norris von Schirach, in München geboren und Ferdinand von Schirachs um ein Jahr älterer Bruder, hatte seinen ersten Roman unter Pseudonym geschrieben. Von 1993 bis 2003 wohnte er in Moskau. Dort erlebte er die Euphorie und Frustration der Jelzin-Jahre, als sich die Grenze zwischen organisierter Kriminalität und staatlichen Institutionen auflöste, während große Teile der Bevölkerung verarmten. Norris von Schirach hat einen Sohn und lebt nach längeren Aufenthalten in Kasachstan und Australien heute in Rumänien. Auch die Premiere seines neuen Romans moderiert Julia Encke. »Beutezeit« ist ein beeindruckend aktueller Roman über eine postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror versinkt. Durch die Brille seines Helden Anton erzählt von Schirach, wie in einer landschaftlich überwältigend schönen Nation Zentralasiens die globalen Auseinandersetzungen zwischen Russland, China und dem Westen um Bodenschätze, Macht und Einfluss mit den härtesten Bandagen ausgetragen werden – und wie der Einzelne dabei zerrieben wird, sollte er den kommerziellen Codes der neuen Epoche nicht folgen.

Seit 2015 verantwortet die Literaturwissenschaftlerin Julia Encke das Literaturressort der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, seit 2020 ist sie die Feuilletonchefin der Zeitung. 2014 erschien ihr Essay »Charisma und Politik – Warum unsere Demokratie mehr Leidenschaft braucht«. 2017 beantwortete sie mit ihrem »Porträt eines Provokateurs – Wer ist Michel Houellebecq«. Das »Medium Magazin« zeichnete sie als »Kulturjournalistin des Jahres 2018« aus.

Ausschnitte aus dem Roman »Beutezeit« liest der Schauspieler Wanja Mues. Wenn einer weiß, wie man jemanden überführt, der so richtig Dreck am Stecken hat, dann er. Ob als Privatermittler Leo Oswald in »Ein Fall für Zwei«, in zahlreichen Tatort-Folgen, im Psycho-Drama »Kollaps« oder in »Die Bourne Verschwörung«. Als SS-Offizier in Roman Polanskis Drama »Der Pianist« mit
Adrien Brody sorgte er für Gänsehaut. In Marie Noëlles Dokumentarfilm »Dürer« zeigte er, warum der Künstler mit den schönen Locken ein so ehrlich emotionales Bild von seiner Mutter malen konnte. Und wenn einer weiß, wie man mit der Stimme überführt, ohne zu überzeichnen, dann punktet auch da Wanja Mues. Als Hörbuchsprecher der Romane u.a. von Ian McEwan und
James Baldwin hält er uns immer wieder in Atem.

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